100vor100
Am Fusse des Villenhügels. Dort, wo Geländewagen Anlauf nehmen und aufgemotzte Boliden stadtauswärts eilen. – Spät nachts gerne auch überstellig beschleunigend, hupend und aus den herunter gekurbelten Fenstern krakeelend. Hier, an der schönsten und mittlerweile meist befahrensten Kreuzung weit und breit, steht seit bald hundert Jahren das Palace. Den gleichnamigen Brothers und Sisters weltweit verpflichtet, versprüht das Haus eine architektonische Grandezza und einen Hauch von vergnüglichem Bürgertum: Geplant wird es vom Architekten Moritz «Moses» Hauser und am 25. März 1924 als «Cinema Palace Theater» eröffnet. Hedy Pfundmayr, die erste Solotänzertin der Wiener Staatsoper, performt bei der Eröffnung zum Film «Das Karussell im Prater». In dem stattlichen Haus wird seither in einem bunten Durcheinander gelebt, gearbeitet und weiterhin fast ohne ohne Pause aufgeführt, denn «Ein Palast ist auch nur eine Hütte». Genau hundert Stunden vor dem Jubiläumstermin beginnen wir, dieses Haus und seine Geschichte zu würdigen und zählen feiernd einen aus zahlreichen Führungen, Konzerten, Vorträgen und Darbietungen bestehenden Countdown hinunter. Das Haus wird rund um die Uhr für hundert Stunden geöffnet. Kommt vorbei und schaut in ungesehene Ecken und Nischen!
Neben Tagespässen für einen Eintritt zwischen 19.00 Uhr und 07.00 Uhr gibt es für alle Ausdauernden und Krimskrams-Sammler*innen verschiedene 100-Stunden-Pässe mit Zusätzen wie Sweater (100mit100cmStoff) oder Sweater, Vinyl, Pantoffeln und weiterem (100vorSuper-Mega-Bundle). Tagsüber mit Kollekte und Stundenzähler.
Mittwoch
Deli Girls (US)
Deli Girls wurde 2013 von Danny Orlowski in Zusammenarbeit mit verschiedenen Produzent*innen gegründet. Seit 2022 nun steht Tommi Kelly mit Danny Orlowski auf der Bühne. Das Duo aus Brooklyn steht für Queer Freak und Anti-Establishment, für Chaos und Abriss. Ihre Musik bewegt sich zwischen den Extremen des digitalen Hardcores, Punk-Noise, Rap und Nu-Metal. Danny Orlowskis verzerrte Stimmzuckungen und Schreie verleihen den Zuhörenden ein unbequemes, mulmiges Gefühl. Eine Klangwelt, die definitiv nicht zum Verweilen, sondern durchaus auch zur ungemütlichen Konfrontation einlädt oder als Wut-Katalysator dient und bislang unbekannte Energien freisetzt. Eine Reizüberflutung im positiven Sinne: Deli Girls inspirieren, erfrischen und befreien.
OG Florin (CH)
Man könnte sagen, ein Trend zeichnet sich im Hip Hop ab, mit anderen Genres einen Paartanz einzugehen. Er ist aber per definitionem schon immer ein dehnbares Mash-Up und Zitat verschiedener Musiken und Disziplinen. Lil Yachty, RIN und der Zuger OG Florin haben alle nach Jahren des Rappens auf Hip-Hop-Beats Indie-Alben herausgebracht, ohne den Rap zu kurz kommen zu lassen. Auf seinem dritten Album «ILY<3» besingt er Limonaden und die ewige Zukunft vor Backgroundgesang zwischen Soulbeats und regnerischen Melodien. In geschmeidiger Manier verwertet er allgegenwärtige Geschichten in Songtexte und die Musikvideos gleichen einem Spaziergang mit Hund. Wholesome und cool zugleich wird OG Florin das 100-Stunden-Fest eröffnen und die eine oder den anderen musikalisch ins Obergeschoss befördern.
Donnerstag
Anika (UK/DE)
«Can music be used to elevate the consciousness into psychedelic experiences?», stellt sich Anika die Frage und eigentlich kennt sie sich sehr gut mit «psychedelischer» Musik und Kunst aus: Seit ihrem Debütalbum, das 2010 in Zusammenarbeit mit Geoff Barrow und der ganzen Band BEAK> auf Invada Records und Stones Throw Records erschienen ist, hat die Wahlberlinerin die Krautrock-, Post-Punk und New-Wave-Musik mitgenommen und mit einer Vielzahl an Alben, Projekten und Kollaborationen sowie als DJ, Aktivistin und Künstlerin stark mitgeprägt.
Und nun schafft Anika mit ihrem neuen Album «Eat Liquid» – ursprünglich als massgeschneiderte Komposition für das Zeiss Planetarium in Berlin konzipiert und dort live aufgenommen – ein Klanguniversum, das nicht einfach nur Musik ist, sondern als Dialog zwischen Klängen, Visuals und der räumlichen Dimension das Ambient-Genre in neuem Kleid zeigt. Ihre Synthesizer klingen echohaft, gespenstisch und gleichzeitig warm, während die Gitarrenklänge und Spoken Words das Hörbare erweitern: eine klangliche Alchemie, bei der Anika meisterinnenhaft zwischen strukturierten Kompositionen und improvisierten Momenten jongliert. Die Performance, eingebettet in eine visuelle Pracht tut dann seinen Rest und öffnet den ganzen Imaginationsraum. Die Abwesenheit perkussiver Elemente ermöglicht es, den schwebenden Soundscapes frei zu fliessen und sich mit der umarmenden, ätherischen Atmosphäre zu verweben.
«We all seek escape in differing moments, through drugs, alcohol, sex and film but can music offer an alternative?» «Eat Liquid» ist ein Abstecher, eine Einkehr in einen akustischen Safer Space, in eine komplexe Klanglandschaft. In dieser künstlerischen Erfahrung scheint die Frage nach der psychedelischen Potenz von Musik beantwortet zu werden, und zwar nicht mit bombastischen Behauptungen, sondern durch subtile und tiefgreifende Sounds. What a matching Sounderlebnis für ein Jubiläum!
Julian Sartorius (CH)
Der Drummer Julian Sartorius kitzelt aus (fast) jeglichem Mobiliar unserer gebauten und natürlichen Umwelt einen Beat heraus. Ausgerüstet mit Sticks, Rucksack und Dächlikappe wandert er bei Wind und Wetter durch Landschaften und Bauten und klopft stetig seine nächste Umgebung nach unerhörten Geräuschen ab. Hätten wohl die Fassadenbauer*innen des anonymen Industriebaus in Zürich gedacht, dass die verbauten Metallelemente mal Social-Media-Stars werden? Sartorius bespielt die Panele in einem hunderttausendfach gesehenen sowie wacker und oftmals auch recht lustig kommentierten Filmchen. Der Musiker kartografiert aber nicht nur klopfend unseren Planeten. Er ist auch einer der gefragtesten und fantasievollsten Schlagzeuger dieses Landes und begleitet z. B. Sophie Hunger in ihrer Live-Band, spielt in diversen Jazzbands und kooperiert mit Musiker*innen unterschiedlichster Couleurs, u. a. mit Matthew Herbert. Da jeder Palast ja auch nur ein Schlaghölzli ist, bietet Julian Sartorius eine besondere Führung durch das Palace-Haus an: Er nimmt an drei Terminen eine Gruppe mit auf die Suche nach all den verbauten und versteckten hundertjährigen Geräuschen. Zusätzlich wird er während drei Stunden auf der Bühne seine Locked Grooves spielen. In seinem 2021 erschienenen Album «Locked Grooves» lotet er in 112 Loops die Möglichkeiten der unendlichen Spielweise von 1.8 Sekunden langen Schlagzeugfragmenten aus
Richard Dawson (UK)
Endlich klappt es mit dem zweiten Auftritt von Richard Dawson in der Ostschweiz: Im Frühling 2015 hatte «Grossbritanniens bester, humanster Songschreiber» (The Guardian) ein eingeweihtes Palace-Publikum mit einem herzergreifenden Solo-Set begeistert, das er mit seinem A-cappella-Lied «Poor Old Horse» unvergesslich in den Stuhlreihen beendete. 2020 fiel der mit Band angesagte Auftritt zu seinem meisterhaft zeitdiagnostischen Album «2020» der Corona-Seuche zum Opfer. Und dann blieb nur das Warten und die Hoffnung übrig, bis es nun endlich zur festlichen Rückkehr kommt: Was auch immer der bärtige Nerd mit den grossen traurigen Augen und dem menschenfreundlichen Schalk aus seinem mittlerweile grossen und ausufernden Folk- und Indie-Metal-Werk spielen wird, ob bekanntere Songs wie «Two Halves», «Jogging», «Thicker Than Water», heimliche Favoriten oder neue Lieder – ein Ereignis, eine Wucht und eine berührende Offenbarung ist der eigenwillige Gitarrist und Sänger mit engelshafter Falsett-Stimme auf jeden Fall. Überraschungen nie ausgeschlossen, Schubladisierungen wie Weird Folk, Prog Rock oder Medieval Industrial hinfällig absurd. So düster seine Texte über Isolation, Paranoia oder Ausgrenzung, so unbeirrt Dawsons Restglaube für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Seine Heimatstadt sei «noch nicht so schlimm wie anderswo», hat er einmal gesagt. «Newcastle ist immer noch eine herzliche Stadt.» Das glauben wir gern und spendieren frohgemut Drinks, wer im Newcastle-United-Shirt auftaucht – ob mit Shearer oder Schär auf dem Rücken ist selbstverständlich einerlei.
Freitag
ENL (CH)
Ihr erstes Konzert ist noch nichtmal zwei Jahre her, aber die bisherige Live-Gig-Liste von ENL ist schon so lange wie sämtliche Sommertage und Winternächte zusammen. ENL bedeutet «Es nervt langsam», aber das muss sich auf was anderes beziehen, denn die Band selbst nervt noch lange nicht. Die Mischung aus bretternden House-und Technobeats und brüchigen, melancholischen bis doppelbödig-lustigen Mundarttexten ist einzigartig und macht vorallem live extrem viel Spass (eigentlich müssten sie EVS heissen). ENL besteht aus Zo (Texte, Gesang) und Oli (Synthesizer, manchmal auch Gesang). Manche nennen ihre Musik Hyperschlager. Andere nehmen an, es sei eine queere Rapversion, weitere sehen darin eine moderne Fortsetzung der Berner Traditionslyriker*innen. Auf jeden Fall haben sie mit der neusten Single «Ballercismaa» einmal mehr gezeigt, dass grosses Tanzflächenhitpotenzial und textliche Tiefe sich nicht ausschliessen müssen.
Pisse (DE)
Laut Wikipedia heissen alle drei bis vier Mitglieder der Band mit Vornamen Ronny, und auch sonst ist Pisse eine Band, die nur ungern und wenn dann fadenscheinige Auskünfte in Interviews gibt. Auch im Internet machen sie sich vergleichsweise rar. Ist aber egal: Die Begeisterung überschlägt sich auch ohne die ganze klassische Promomaschinerie und Selbstdarstellung bei einer grossen Fangemeinde, weil Pisse einfach eine sensationell gute Band ist. Das von Brezel Göring aufgenommene und produzierte Album «Mit Schinken durch die Menopause» (2015) wurde vom Musikexpress 2023 unter die 50 besten Punkalben aller Zeiten gewählt. Internationale Bekanntheit erlangte ihr Song «Fahrradsattel» (vom Album «Kohlrübenwinter», 2016) 2021 über Tiktok. Pisse-Songs dauern oft weniger als zwei Minuten, holen dabei aber sowohl musikalisch als auch textlich alles raus an Extase, Hochspannung, komprimierten Gefühlen über diverse Zustände und rotziger Präzision. Theremin und Synthesizer verleihen dem harten und schroffen Sound etwas Sphärisches, Melancholisches, manchmal auch Humoristisches. Pisse live zu sehen, ist eher eine seltene Gelegenheit, insbesondere in der Schweiz. Nicht verpassen!
DJ Hell (DE)
Es liessen sich an dieser Stelle zum schwindlig werden Namen droppen: Unzählige Kollaborationen mit grossartigen Musiker*innen, Modelabels und Kunstschaffenden, Mitarbeit und Grundsteinlegung bei diversen Labels, Filmmusik sowie Engagements für Fussball- und Politikkultur zeugen von der schier endlosen Neugierde und Bandbreite des Bayers DJ Hell. Dazu kommen seine Shows in allen Ecken dieser Welt und der Ruf als Institution in der DJ-Szene. Aber Hell – ihm wird die Erfindung des Electroclashs zugeschrieben – entzieht sich immer wieder der Verwertungsmaschinerie und des Mainstreams und mag es zuweilen auch nischig und alternativ, aber dies immer mit freundlicher und grosser Geste. Hells Dancefloor ist zwar straight 4-to-the-floor, aber eben immer auch von einer emanzipativen und unabhängigen Kraft durchsetzt: Seit Jahren unterstützt er Femen oder widmete ein Album – als riesengrosse Verneigung vor deren Einfluss und Wirkkraft in der elektronischen Musik – der Gay Community. Hell interessiert sich seit jeher für verschiedenste Stile und Genres, die Einladung 1995 zu einer John-Peel-Session muss als Ritterschlag dafür gesehen werden, was Hell für einen Einfluss hatte und noch immer hat. Wir freuen uns sehr, dass er nach 2015 wieder im Palace zum Rave lädt!
Samstag
aya (live, UK)
Ihr Debütalbum «Im hole» erinnert an ein engmaschig verwobenes Textil zwischen Sounddesign mit Ambient-Anlehnungen und Klubtracks. Die Grenzen zwischen den Lyrics (die sie zum Album als Gedichtsammlung veröffentlicht hat) und den Sounds verschwimmen. Live ist ihre Avantgarde-Tanzmusik sehr zugänglich, lädt ein zu ausladenden Bewegungen, ist gar humoristisch und macht einfach sehr viel Spass. Und genau darin liegt eine der grossen Stärken von aya: in ihrer Doppelbödigkeit. Denn sie befasst sich gleichzeitig mit Feststecken, Zuschreibungen und ihrem queeren Dasein. Das sie dann zugleich wieder dekonstruiert, indem sie der queeren Kunstszene eine solipsistische Tendenz unterstellt (Solipsismus bezeichnet in der Philosophie eine These oder Schlussfolgerung, nach der allein die Existenz des eigenen Ichs gewiss sein kann). aya probiert, die Dinge zu benennen und doch genügend Raum für Schattierung und Übergänge zu lassen, wie sie es in einem Interview in Dazes selbst sagt: «So often, when it’s like, ‹oh fuck this person, they're a piece of shit›. It’s like, maybe let’s have a slightly more complicated understanding of what’s going on here. Like, maybe things can be not just good or bad. Maybe things can be messy. I think that’s really important.» Im hole ist es dunkel, wer sich darin befindet oder sich selbst als Loch sieht, lernt den Umgang mit Schatten.
The Ex (NL)
Welche Band würde besser zum Palace als freiheitliche Hütte des kontinuierlichen Aufbruchs passen als das holländische Kollektiv The Ex? 1979 in der Anarcho-Punk- und Hausbesetzer*innen-Szene Amsterdams gegründet, sind The Ex 45 Jahre später ihrem Leitspruch «Vorwärts in alle Richtungen» und den Idealen eines anarchistischen, antikapitalistischen und antirassistischen Lebensentwurfs immer noch treu. Terrie Hessels (Gitarre), Arnold de Boer (Gesang), Katherina Bornefeld (Schlagzeug) und Andy Moor (Gitarre) haben ihren mitreissenden Avantgarde-Polit-Punk im Geist von Crass, Gang Of Four oder Mekons im Lauf der Zeit ständig erweitert und mit unzähligen Kollaborationen befruchtet, grenzenlos offen unterwegs speziell mit afrikanischen Musikschaffenden. Wo einsteigen? Wir empfehlen «State Of Shock» mit dem amerikanischen Cellisten Tom Cora (1991), «Soon All Cities» vom jüngsten Album «27 Passports» (2018) oder die Live-Aufnahmen mit dem legendären äthiopischen Saxophonisten Getatchew Mekurya. Und sonst bitte keinerlei Berührungsängste: The Ex, angetrieben vom Trance-Herzmotor der grossartigen Schlagzeugerin Bornefeld, werden buchstäblich alle vom Hocker in die Bewegung reissen.
Zebra Katz (US)
Mit Gladiator*innenrüstung aus Leder oder knappem Kettenhemd betritt der jamaikanisch amerikanische Rapper Zebra Katz die Bühne. Seine Faszination für die 1980er Ball Culture sind dieser Show deutlich anzusehen: eine Mischung aus körperbetonter Performance, Konzert und Fashion Show. Die Musik von Zebra Katz bewegt sich zwischen queerem Rap, Pop Techno und Noise-Ausflügen. Seine Texte sind humorvoll und kritisch zugleich («Last night I got so high I kicked myself out of Berghain»). Aber dass er mit seiner Musik live auch einfach unterhalten will, sagt er im Song «ISH» gleich selbst: «All I wanna do is keep the dance floor jumping». Mit seiner ersten Single «Ima Read» hat sich Zebra Katz 2012 auf den internationalen Musikradar gehievt, gefolgt von intensiven Touren, Kollaborationen mit Busta Rhymes, Azelia Banks und Gorillaz hat er 2020 schlussendlich sein Debütalbum «Less is Moore» veröffentlicht. Dieser Text darf auch als eine Festschrift auf ein Konzerterlebnis gelesen werden. Denn wir können es kaum glauben, dass er noch nicht zu den ganz grossen gehört und haben seit nun mehr also zehn Jahren das Gefühl, dass er gleich durch die Decke geht. Bitte, herein zum grossen Rapspektakel! Alle Ohren spitzen und Gelenke lockern, mit Zebra Katz sind wir in for a treat. Und wir lehnen uns hier auch gleich etwas aus dem Fenster: Das ist eins der unterhaltsamsten Live-Erlebnisse.
Sonntag
Bettina Dyttrich & Demi Jakob (CH)
Die WOZ-Redakteurin und Musikbegeisterte Bettina Dyttrich lädt gemeinsam mit der Stimme von Jeans for Jesus Demi Jakob zu einer besonderen Literatur-Musik-Performance ein. Neben Sachbüchern hat Dyttrich zuletzt mit «Es hilft, dass ich Leute anschreien darf» eine Interview-Sammlung mit 13 Schweizer Musiker*innen veröffentlicht. Mit Jakob kombiniert sie nun eine Lesung mit elektronischer Musik und begibt sich damit in die Dimension der Soundscapes, wo Bild und Klang zusammenfinden und auf mehrere unserer Sinne zu wirken beginnen. Dyttrich liest aus einem unveröffentlichten Romanprojekt, das von Ro und dem Versuch handelt, nach einem Vulkanausbruch zur utopischen Kommune von Ra zu finden, die an neuen Wissenschaften arbeitet. Um die Atmosphäre gänzlich fassen zu können, dürfen Yoga-Matten mitgebracht und benutzt werden, vielleicht auf oder vor der Bühne. Samtsessel hat es alternativ auch zur Genüge.
Euroteuro (AT)
Als Kollektiv mit einem nicht hundertpro ernst gemeinten Namen zogen Euroteuro los und landeten 2016 mit «Autogrill» einen veritablen alternativen Sommerhit. Damals war die Welt noch in Ordnung, naja, jedenfalls ist sie in den vergangenen noch mehr den Bach runter und die Wiener*innen wurden von der Realität, respektive der galoppierenden Teuerung rechts überholt. Und was macht die mittlerweile auf ein Duo (Katarina Maria Trenk und Peter T.) eingedampfte Truppe? Sie schreibt mit «Teuer» eine Prekariats-Hymne, die ihresgleichen sucht: «900 Euro warm / viel zu teuer!» und «Flasche Bier in der Bar / viel zu teuer!» und «überall Eintritt zahlen / viel zu teuer!» oder «draussen kalt, innen warm / viel zu teuer!». Euroteuro sind der tanzende Beweis dafür, dass politische Musik kein angepapptes Label braucht, sondern sie fordern aller prekariatsbedingten Widrigkeiten zum Trotz mit einem freundlichen Grinsen im Gesicht und mit Lakonik geladenen Wasserpistolen ihr Recht auf Lifestyle ein. Da passt es auch wie die Lohnerhöhung auf den Apérol Spritz, dass sich Euroteuro dem allabendlichen Reproduzieren von Songs mit einer ausgewachsenen Band verweigern – ein Laptop reicht als Hauptinstrument für eine ausgelassene Performance (die Songs gibt es ja!).
Klitclique (AT)
«Egal wo du bist / lutsch an meiner Clit / deine Kunst ist / unendlich hässlich / und klebrig / schlechte Firnis / keine Touchscreens / unzeitgenössisch / wir sind das letzte weibliche Rapduo von Österreich Deutschland und auch der Schweiz weil / Frauen zu zweit / das geht zu weit (…)» Was bei der Einordnung als Feministischer-Kunst-Rap oft übersehen wird, ist, dass die beiden Wienerinnen in erster Linie sarkastisch-direkte Battle-Raps auf avantgardistische Beats packen – und mit der daraus entstehenden Kombination Genregrenzen sprengen. Und auch mediale, denn G-Udit und $chwanger sind beide auch in der bildenden Kunst aktiv. Die Musik wird stets von einer starken visuellen Komponente begleitet, seien es Videos, Outfits oder selbstgebaute Requisiten. Klitclique machen sich nicht nur inhaltlich gerne über Mackertum lustig, sondern auch formal, z.B. über die vermeindliche Wichtigkeit handwerklichen Könnens, was meistens mit einer männlichen Expertise verbunden ist, also dieses: «Wer kann am krassesten freestylen.» Das ist oft sehr lustig, z.B. im Track «alles fliesst», wo sie mögliche Kritiken oder Ansprüche an «guten Rap» vorwegnehmen und runtergebrochen aneinanderreihen: «Doppelreim, Doppelreim, keine Punchline! Keine Hook, kein Chorus, kein Refrain!(…) Metapher! Metapher! Klangmalerei! Synonym! Poststrukturalistische Kritik! (…) Alle sagen Klitclique sind total sexistisch, aber das stimmt nicht, wir sind total freundlich und respektieren unsere Mütter!»